SITUATION DER BETROFFENEN

Obwohl es immer mehr Wissen über die körperlichen Dysfunktionen bei ME und CFS gibt, sind die exakten Ursachen bislang ungeklärt und es gibt keine anerkannte Behandlung. In der Regel bleiben die Patient:innen ihr Leben lang schwer krank. Umso bedenklicher ist es, dass kaum in die Erforschung der Krankheit investiert wird. Im Jahr 2017 gab das US-amerikanische Gesundheitsministerium pro ME- und CFS-Patient:in $ 15 aus. Der entsprechende Betrag für AIDS ist $ 3'000. 1 In der Schweiz wurde noch nie zu ME geforscht.

Die Verkennung einer Krankheit

ME wurde schon früh als neuroimmunologische Krankheit erkannt. Die Krankheit wurde 1956 zum ersten Mal unter dem Namen Myalgische Enzephalomyelitis beschrieben und 1969 von der Weltgesundheitsorganisation WHO als neurologische Krankheit klassifiziert. Doch Anfang der 1970er Jahre kam die These auf, dass der hohe Anteil junger Frauen unter den Patient:innen einen Beleg für Hysterie als Ursache liefere. 2 Diese groteske These stiess in der Fachwelt zu Beginn auf grosse Ablehnung. Da jedoch keine eindeutige physiologische Ursache gefunden werden konnte, begann die Fehlkonzeption sich in den 1980er Jahren durchzusetzen.

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Gleichzeitig wurde ME mit dem viel breiter definierten Krankheitsbild CFS vermischt und verlor dadurch an Spezifität. In Folge sind weltweit Forschungsgelder und Unterstützungsleistungen für die Patient:innen zurückgegangen und man begann, sie mit schädlichen psychosomatischen Methoden zu behandeln. 3

Neues Bewusstsein

Heute sind die körperlichen Fehlfunktionen bei ME besser erforscht und es findet seit einigen Jahren weltweit ein Paradigmenwechsel statt. 2015 erkannte eine vom US-amerikanischen Gesundheitsministerium in Auftrag gegebene Studie ME eindeutig als schwere körperliche Erkrankung. 4 Im gleichen Jahr entschuldigte sich in Norwegen die Premierministerin öffentlich bei den Patient:innen.

«Wir hatten dieser Patienten­gruppe nichts anzubieten und ihr wurde mit Ablehnung im Gesundheits­wesen begegnet. Dies geschah, weil es viele Vorurteile gegenüber dieser Krankheit gab; dass sie das Resultat einer psychologischen, beinahe gewollten Krankheit wäre. Es ist wirklich ein Skandal! Diesen Patienten wurde mit mangelndem Respekt begegnet, nur weil wir nicht genug Wissen hatten.» 5 – Erna Solberg, Premier­ministerin von Norwegen –

Immer mehr Länder folgten. 2016 gründete die EU ein Forschungs­programm zu ME namens EUROMENE. 7 2018 hat der niederländische Gesundheits­rat ME als schwere körperliche Krankheit anerkannt und mehr Forschung sowie bessere Unterstützung für die Patient:Innen gefordert. 7 Das dänische Parlament folgte ein Jahr später. 8

Anfang 2019 fand eine parlamentarische Debatte im britischen Unterhaus statt, in welcher die schlechte Versorgung der ME-Patient:innen diskutiert wurde. Sämtliche Parlamentarier:innen stimmten einer Motion zu, welche forderte, dass die Regierung mehr Forschungsgelder für ME zur Verfügung stellt, medizinische Fach­leute besser über ME ausgebildet werden, und potenziell schädliche psycho­somatische Behandlungs­methoden bei ME abgeschafft werden. 9 2020 hat das Europäische Parlament in einer Resolution die Finanzierung von biomedizinischer Forschung und Aufklärungskampagnen zur Sensibilisierung des Fachpersonals im Gesundheitswesen und der allgemeinen Bevölkerung gefordert. 10

Im Jahr 2021 veröffentlichte die britische NICE neue Richtlinien zu ME, welche verschiedene grosse Verbesserungen zu den alten von 2007 beinhalten: 11

  • Es wird anerkannt, dass ME eine schwere körperliche Krankheit ist, die zu vollständiger Bettlägerigkeit und Pflegebedürftigkeit führen kann.
  • Die schädliche graduierte Aktivierungstherapie (GET) darf nicht mehr angeboten werden.
  • Der Lightning Prozess und ähnliche potentiell schädliche und nicht evidenzbasierte Programme dürfen nicht mehr angeboten werden.
  • Die kognitive Verhaltenstherapie (CBT) ist nicht kurativ, sondern darf – wie bei jeder chronischen Krankheit – nur als Unterstützung beim Management und der mentalen Verarbeitung der Krankheit angeboten werden.

Die Situation in der Schweiz

In der Schweiz ist von diesem Paradigmenwechsel bis anhin leider wenig angekommen. ME und CFS offiziell nicht erfasst. Im Gesundheitswesen herrscht eine ablehnende Haltung und die IV stuft die Krankheiten entgegen dem internationalen Forschungskonsens als psychosomatische Leiden ein. Es gibt hierzulande zwischen 16’000 und 24’000 Betroffene, denen ein würdiges Leben unmöglich ist. Weil diese Menschen teils rund um die Uhr von Angehörigen gepflegt werden, gibt es noch einen weit grösseren Kreis betroffener Menschen, deren Lebensqualität massiv eingeschränkt ist. 11

Auf Bundesebene verlangte Ständerat Damian Müller 2020 mit einem Postulat (Nr. 20.3671) einen Bericht zu Forschungsergebnissen und Informationen, an wen sich Betroffene für Unterstützung wenden können. Dieses Postulat lehnte der Ständerat auf Empfehlung des Bundesrats am 21. September 2020 ab. 12 Für die betroffenen Patient:innen und ihre Angehörigen bleibt nur der Eindruck, niemand fühle sich verantwortlich und man überlasse sie ihrem Schicksal.

Die Situation der Betroffenen ist verheerend. Sowohl die medizinische Versorgung wie auch die sozialstaatliche Absicherung sind quasi inexistent. In einer 2021 von der Schweizerischen Gesellschaft für ME & CFS durchgeführten Umfrage unter Patient:innen 13 gaben weniger als ein Sechstel an, einen Hausarzt zu haben, der sich mit der Krankheit auskennt. 28% haben gar keinen Hausarzt oder nur einen, der die Krankheit nicht als solche anerkennt. Viele haben in einem medizinischen Notfall schlechte Erfahrungen machen müssen, weil das medizinische Fachpersonal die Krankheit nicht kennt oder nicht anerkennt.

Hausarzt
Renten

Den Verantwortlichen in den Sozialversicherungen ist ME weitestgehend unbekannt. In der Folge sind die Patient:innen für ihren Lebensunterhalt in aller Regel von pflegenden Angehörigen abhängig. Wenn IV-Renten gutgesprochen werden, geschieht dies meist nicht für ME, sondern für eine Begleiterkrankung oder gar für eine Fehldiagnose. Eine absurde Situation, denn die Krankheit, die zur Rente berechtigt, ist in der Regel weniger einschränkend als ME.

Auch bei der Alltagsbewältigung müssen Angehörige den grössten Teil der Verantwortung übernehmen, weil externe Hilfe fehlt. Die Angehörigen pflegen und versorgen ohne jegliche Hilfe Patient:innen, die teilweise zu krank sind, die Körperpflege selber zu erledigen, nicht ohne Hilfe zur Toilette gehen oder essen können. Gewisse ME-Patient:innen sind zu schwach, um selber ein Trinkglas an den Mund zu führen oder sich im Bett umzulagern.

ME-Patient:innen und ihre Angehörigen sind nicht nur mit einer schweren Krankheit, medizinischer Unterversorgung und existenziellen Problemen konfrontiert, sondern auch einem gesellschaftlichen Stigma ausgesetzt. Dies macht in den allermeisten Fällen nicht vor dem nahen Umfeld der Patient:innen halt. Viele Beziehungen zerbrechen daran, und oft sind ME-Patient:innen mit Einsamkeit konfrontiert. Viele ME-Patient:innen verlieren durch die Krankheit den grössten Teil ihres sozialen Umfeldes, oft auch nahestehende Personen.

Sozial

Bitte beachten Sie die vollständige Analyse zu unserer Datensammlung zur Situation der ME-Patient:innen in der Schweiz.

Einzelnachweise

ITHACA COLLEGE NEWS, Tireless Work on Chronic Fatigue Syndrome, September 2018 (online)

COLLIN P. MCEVEDY, ALFRED W. BEARD, “Concept of Benign Myalgic Encephalomyelitis”, in; British Medical Journal, Januar 1970. (online)

KEITH GERAGHTY ET AL., “Myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome patients’ reports of symptom changes following cognitive behavioural therapy, graded exercise therapy and pacing treatments: Analysis of a primary survey compared with secondary surveys”, in: Journal of Health Psychology, August 2017. (online)

INSTITUTE OF MEDICINE, Beyond Myalgic Encephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrome: Redefining an Illness, Februar 2015. (online)

NORSK RIKSKRINGKASTING (Norwegischer Rundfunk), Jeg lager kunst på de gode dagene, Mai 2015. (Webseite auf Norwegisch)

EUROPEAN ME NETWORK (EUROMENE, European Network on ME/CFS). (online)

NIEDERLÄNDISCHER GESUNDHEITSRAT, ME/CVS, März 2018. (Webseite auf Niederländisch)

MEACTION, Denmark: MPS will vote wheter to recognise ME as WHO-defined disease!, März 2019. (Webseite auf Englisch)

PARLIAMENTLIVE.TV (HOUSE OF COMMONS), Myalgic Encephalomyelitis treatment and research, Januar 2019. (Webseite auf Englisch)

EUROPÄISCHES PARLAMENT, Verfahren : 2020/2580(RSP), Juni 2020. (online)

Die Zeitschrift Annabelle hat einem ausführlichen Artikel die typische Geschichte einer Schweizer ME-Patientin portraitiert:
ANNABELLE, «Ich brenne für das Leben», Nr. 8/2019, 19.6.2019, S. 52. (online)

BUNDESVERSAMMLUNG, Postulat 20.3671, Juni 2020. (online)

SCHWEIZERISCHE GESELLSCHAFT FÜR ME & CFS, Die Situation der ME-Patient:innen in der Schweiz, April 2021. (online)