Pacing

Pacing ist eine Technik für das Energiemanagement bei ME, mithilfe derer die Häufigkeit und Schwere von Symptomverschlechterungen reduziert werden kann.

Pacing Katze
Alle Illustrationen wurden von der Illustratorin und ME-Patientin Vanessa (Instagram @van.neu) erstellt. 💙

Diagnose ME – was nun?

Wahrscheinlich liest Du diesen Text, weil Du die Diagnose ME bzw. CFS erhalten hast oder weil Du nach einer Covid-Infektion unter anhaltenden Symptomen leidest und Dich nun mit Pacing auseinandersetzt.

Es kann sein, dass Dir von medizinischen Fachpersonen gesagt wurde, dass Du mit Aktivierung eine Verbesserung Deines Gesundheitszustandes erreichen kannst - das hat damit zu tun, dass das Wissen über die Behandlung von ME in medizinischen Fachkreisen noch immer sehr wenig verbreitet ist.

Aktivierungstherapien können zu schweren und teils irreversiblen Zustandsverschlechterungen führen. Wir raten aus dieser Erfahrung heraus in Anlehnung an wissenschaftliche Studien zur Gegenstrategie: Pacing - gezieltes Energiemanagement. Pacing hilft vielen dabei, ihren Gesundheitszustand zu stabilisieren oder ihn sogar zu verbessern.

Diese Broschüre hat das Ziel, Dich bei der Umsetzung von Pacing zu unterstützen. Sie erläutert die Grundprinzipien des Energiemanagements bei ME und beschreibt bewährte Techniken, die von der Forschung unterstützt werden.

ME wird in der Schweiz meist unter dem Begriff CFS (chronisches Fatigue Syndrom) diagnostiziert. Eine CFS-Diagnose mit gleichzeitiger Zustandsverschlechterung nach Anstrengung bedeutet in vielen Fällen ME.

Auch ein Teil der Patient:innen, die noch Monate nach einer Covid-Infektion unter anhaltenden neurologischen und immunologischen Symptomen leiden und dafür die Diagnose Post Covid bzw. Long Covid erhalten haben, leidet an ME.

Mit unserem automatischen Fragebogen kann man abklären, ob die Diagnose ME infrage kommt.

Was ist Pacing?

Pacing ist keine Behandlung im engeren Sinne, sondern eine Strategie im Umgang mit Symptomen. Diese zielt auf die Kontrolle über das Leitsymptom PENE ab.

Das Ziel von Pacing ist es, die vorhandene Energie möglichst balanciert einzusetzen, sodass die Krankheitssymptome so wenig wie möglich getriggert werden. Optimalerweise resultiert daraus eine Stabilisierung oder gar einer Verbesserung des Zustandes und langfristige Zustandsverschlechterungen können vermieden werden.

Um mit der Strategie des Pacing erfolgreich zu sein, musst Du Deinen Energiehaushalt ganz neu kennenlernen. Du musst also lernen, wieviel Gesamtenergie Du jetzt neu zur Verfügung hast und welche Tätigkeiten jetzt zu Verschlechterungen führen. Zugleich musst Du lernen, Dir mehr Zeit zur Erholung zu geben.

Verschiedene Hilfsmittel wie beispielsweise eine Pulsuhr, ein Aktivitätstracker oder eine Stoppuhr können Dich dabei unterstützen. Auch Angehörige und Freund:innen kannst Du zur Unterstützung einbeziehen.

Pacing Katze

Was ist Pacing nicht?

Pacing ist KEINE Strategie zur graduellen Steigerung von Aktivität. Sie ist im Gegenteil eine Gegenstrategie zur graduellen Aktivierungstherapie (Graded Exercise Therapy, GET), die in bestimmten medizinischen Fachkreisen ME-Patient:innen noch immer empfohlen wird.

Die Erfahrungen der Patient:innen und wissenschaftliche Erkenntnisse belegen, dass eine graduelle Aktivierungstherapie zu bleibenden, gravierenden Zustandsverschlechterungen führen kann, wodurch Patient:innen, die zuvor ohne Hilfsmittel mobil waren, nach der Aktivierungstherapie häufig auf einen Rollstuhl angewiesen sind oder bettlägerig werden.

Eine Studie, die Umfragen unter Patient:innen aus über 30 Ländern analysiert hat, konnte zeigen, dass die Mehrheit der ME-Patient:innen von Pacing profitieren kann, während Aktivierung meist schädlich ist.

Gegenüberstellung Pacing vs. Aktivierung
Gegenüberstellung des Effekts von Pacing vs. gradueller Aktivierungstherapie 1

Warum Pacing?

Da ME in einer grossen Bandbreite an Schweregraden vorkommt, bedeutet Pacing für alle Patient:innen etwas anderes. Weniger stark Betroffene können zum Teil ohne Folge von PENE einer Arbeit nachgehen, aber keinen Sport mehr treiben oder zusätzlichen Freizeitaktivitäten nachgehen.

Bei schwerer Betroffenen kann ein Toilettengang oder ein kurzes Telefongespräch zu PENE führen, während bei Schwerstbetroffenen selbst die Aufnahme von fester Nahrung PENE zur Folge haben kann.

Es ist massgeblich, für einen günstigen Krankheitsverlauf PENE soweit möglich zu vermeiden. Andernfalls kann es zu einer zunehmenden Verschlechterung bis hin zu vollständiger Bettlägerigkeit und Pflegebedürftigkeit kommen. Es ist schwierig, PENE komplett zu vermeiden. Konsequentes Pacing kann jedoch die Schwere und Häufigkeit von PENE reduzieren und damit bleibende Zustandsverschlechterungen verhindern

Vor allem in den ersten zwei Jahren der Erkrankung bestehen gute Chancen dafür, dass ein weiterer ungünstiger Verlauf der Krankheit unterbunden werden kann. Hierzu kann Pacing massgeblich beitragen.

In den ersten Wochen und Monaten nach einem Infekt kann Pacing eine sehr zielführende prophylaktische Strategie darstellen, damit sich gar nicht erst eine postvirale Krankheit entwickelt. Deshalb sollte nicht zu lange mit einer Krankschreibung oder Reduzierung der Aktivität gewartet werden, wenn nach einem Infekt anhaltende Symptome bestehen bleiben.

Brainfog Katze

Pacing lernen & anwenden in fünf Schritten

Schritt 1: Situation annehmen & umdenken

Du bist jetzt in einer neuen Situation, in der Dein Körper anders funktioniert, als Du es bisher gewohnt warst. Du musst Deinen Körper neu kennenlernen und ebenso muss Dein Umfeld Deine Grenzen neu kennenlernen. Veränderungen sind immer verunsichernd und herausfordernd. Es ist also klar, dass bereits das Annehmen der neuen Situation herausfordernd sein kann - für Dich, aber auch für die Menschen in Deinem Umfeld.

Zu lernen, dass auf geliebte Aktivitäten verzichtet werden muss, ist ein schwieriger und schmerzhafter Prozess. Man kann sich nicht mehr von Freude und Interessen leiten lassen, sondern die Krankheit bestimmt das Ausmass und das Tempo der Aktivitäten.

Gesellschaftliche und persönliche Erwartungen können die Tendenz zum Überschreiten der Belastungsgrenze verstärken. Die eigenen neuen Grenzen nicht einzuhalten ist - wie vorgängig beschrieben - aber kontraproduktiv und schädlich. Deshalb ist ein Umdenken notwendig. Dieses Umdenken fordert viel Disziplin und Selbstfürsorge. Ruhe und Schonung sind die Grundlage des Managements von ME!

Pacing Katze

Schritt 2: Baseline identifizieren

Typischerweise leiden ME-Patient:innen trotz Schonung an einer gewissen Symptomlast, d. h. sie sind - zumindest bei moderat und schwer Betroffenen - nie symptomfrei. Die Baseline bezeichnet diese geringst mögliche Symptomlast, welche nach langer, konsequenter Schonung stabil bleibt

Die Menge an Aktivität, die ohne Symptomverschlechterung möglich ist, schwankt von Person zu Person und hängt von der Symptombreite und -schwere ab. Deshalb muss die eigene Baseline individuell identifiziert werden.

Falls die Symptome konstant schwanken, ist eine sehr lange Schonungszeit notwendig, um dem Körper eine Stabilisierung zu ermöglichen. Dies kann Monate dauern. Bei schwerer ME können dabei kleinste Details (z. B. Verringerung selbst von schwachen sensorischen Reizen) massgebend sein.

Um die Baseline zu identifizieren, musst Du herausfinden, was für den Körper anstrengend ist. Folgende Faktoren können Trigger (Auslöser) für eine Symptomverschlechterung sein:

Körperliche Aktivitäten

Körperpflege, Essen & Verdauung, allgemeine Körperfunktionen, jegliche Art von Bewegung, aufrechte Körperposition (z.B. Sitzen, Stehen, mit erhöhtem Oberkörper im Bett Liegen), aktive und passive Körpertherapien (z. B. Physiotherapie, Massage, Lymphdrainage etc.), Sexualität usw.

Kognitive Aktivitäten

Lesen, einem Gespräch oder Referat folgen, Denken, Computerarbeit, Instruktionen folgen, Sozialkontakte, Interaktionen mit Pflegepersonal bzw. pflegenden Angehörigen, Behörden, Ärzt:innen usw.

Gerade die kognitive Anstrengung wird häufig unterschätzt. Bereits bei gesunden Menschen verbraucht das Gehirn ca. 20% der Energie.

Sensorische Reize

Gerüche, Geräusche und Musik, Wärme, Kälte, Berührungen, Bewegungen anderer Menschen oder die blosse Anwesenheit anderer Menschen im Raum, Farben, Farbkontraste oder Muster (z. B. auf Textilien), Licht, bewegte Bilder (z. B. GIFs, Videos), blinkende Lichter, Erschütterungen (z. B. beim Autofahren) usw.

Emotionales Erleben

Intensive Gefühle empfinden, (positive oder negative) emotionale Neuigkeiten verarbeiten, Gefühle ausdrücken (z. B. Weinen oder Lachen), Psychotherapie usw.

Unverträglichkeiten

Chemikalien (z. B. Duftstoffe, Putzmittel, Raumbeduftung, Waschmittel, Wandfarben, Insektizide), bestimmte Lebensmittel, Schimmelpilze, Medikamente, ätherische Öle usw.

Kombinierte Trigger

Kombiniert können Trigger umso stärkere PENE verursachen. Besonders bei schwerer Betroffenen können bereits einfache Reize wie Licht, Geräusche, schnelle Bewegungen einer anderen Person oder bewegte Bilder PENE ausgelöst werden.

Ein Symptom- und Aktivitätstagebuch kann Dir bei der Identifikation der Baseline und möglicher Trigger helfen. Wenn man jeden Tag notiert, welche Aktivitäten man umgesetzt hat und welche Symptome wie schwer auftreten, kann man Zusammenhänge zwischen der Aktivität und der Symptomlast einfacher herausfinden.

Du kannst auch Personen aus Deinem Umfeld in Deinen Lernprozess einbeziehen. Sie können Dich dabei unterstützen, Deine neue Baseline zu bestimmen.

Oftmals können aussenstehende Personen mittels guter Beobachtung Anzeichen von Überanstrengung früher wahrnehmen, zum Beispiel wenn Du in eine geliebte Aktivität vertieft bist.

Spielende Katze

Schritt 3: Grenzen finden

Ist die Baseline erreicht, musst Du herausfinden, wo Deine Grenzen liegen, bevor PENE eintritt.

Einerseits geht es darum zu ermitteln, welches Mass einer Aktivität oder eines sensorischen Reizes möglich ist, ohne PENE zu verursachen. Andererseits auch darum, wie viel vorgängige und nachfolgende Ruhezeit diese Aktivität voraussetzt.

Wenn Du nach einer Symptomverschlechterung wieder energiefordernden Tätigkeiten nachgehst, bevor die Baseline erreicht ist, dauert die Erholung erfahrungsgemäss danach umso länger.

Beim Finden Deiner Grenzen können Dich folgende Fragen unterstützen:

  • Durch welche Trigger werden die Symptome verstärkt?
  • Wann tritt die PENE ein?
  • Welche Aktivitäten sind sicher?
  • Welche Symptome treten während welchen Aktivitäten und Triggern auf?
  • Welche Symptome treten nach welchen Aktivitäten und Triggern auf?
  • Welche Symptome warnen früh vor einer PENE?
  • Wie viel Ruhe ist notwendig vor einer Aktivität?
  • Wie viel Ruhe ist notwendig nach einer Aktivität?
  • Kann ich den Regenerationsprozess unterstützen?
  • Wie schnell wird die Baseline je nach Schwere und Art der PENE wieder erreicht?

Es ist auch wichtig, zu beachten, dass bereits in völliger Ruhe zur Aufrechterhaltung der grundlegenden Körperfunktionen viel Energie benötigt wird (Grundumsatz). Bei schwerster ME kann alleine der Grundumsatz bereits die verfügbare Energie übersteigen.

Grundumsatz Energie

Trotz konsequentem Pacing kann es zu Situationen kommen, in welchen die Energiereserven schneller aufgebraucht sind als erwartet oder die Erholung länger dauert als gewohnt. Grund dafür können einerseits Schwankungen im Krankheitsverlauf selber sein oder auch äussere Einflüsse, welche sich nicht kontrollieren lassen. Beispiele sind Infekte, spontaner Besuch, Baulärm oder Musik in der Nachbarschaft, Hitzewellen, Schlaflosigkeit, Menstruationszyklus, Situationen, die Emotionen auslösen, usw.

Es kann gut sein, dass Du beim Einhalten Deiner Grenzen nie ausgelernt haben wirst. Deine Grenzen werden sich je nach Krankheitsverlauf und Situation verschieben. Personen in Deinem Umfeld werden mit der Zeit verstehen, wie die Krankheit funktioniert, und können Dich beim Einhalten der Grenzen unterstützen.

So wichtig es ist, möglichst gut zu pacen, so wichtig ist es auch, dass Du es Dir verzeihst, wenn es Dir nicht immer gelingt. Pacing erfordert ein riesiges Mass an Selbstdisziplin, Planung und Organisation. Sei nicht zu streng mit Dir und mache Dir keine Vorwürfe, wenn Du Dich überanstrengt hast und eine Aktivität PENE zur Folge hat.

Es ist menschlich, aktiv sein zu wollen, spontan sein zu wollen, die Zeit zu vergessen oder schlicht die Disziplin zur Einhaltung der Ruhepausen nicht immer aufbringen zu können.

Balancierende Katze

Schritt 4: Aktivität & Ruhe ausbalancieren

Sobald Du ein Gefühl dafür erlangt hast, wo Deine Grenzen liegen, respektive wie sich die Grenzüberschreitung bemerkbar macht, kannst Du beginnen «mit den Reglern zu spielen». Optimalerweise wirst Du Dich jetzt in der neuen Situation bereits besser orientieren können.

Die Balance langfristig zu halten, heisst für Patient:innen ständig Prioritäten zu setzen, wie sie ihre Energie einteilen. Es kann für Dich schwierig sein, wichtige oder geliebte Aufgaben unerledigt zu lassen bzw. mittendrin unterbrechen zu müssen oder bei Planänderugen von aussen auf Unverständnis zu stossen.

Vorsicht bei Adrenalin

Während einer Aktivität kann die körpereigene Adrenalinausschüttung ein Überschreiten der Energiereserven erlauben, denn Adrenalin kann das Wahrnehmen der Überanstrengung für eine gewisse Zeit aufheben. Dies macht das Einhalten der Grenzen besonders schwierig. Überanstrengung durch Adrenalinschübe, aufputschende Medikamente oder Substanzen kann zu besonders schwerer PENE führen. Auch kleinere Adrenalinmengen, wie z. B. bei der Betäubungsspritze vom Zahnarzt, können zu PENE führen.

Überanstrengung präventiv auffangen

Es gibt Situationen, in denen Betroffene bewusst eine Überanstrengung in Kauf nehmen (müssen), um eine längst überfällige Körperpflege durchführen (lassen) zu können, an wichtigen Ereignissen teilzunehmen oder Aktivitäten zum Ausgleich für die psychische Gesundheit zu erleben. Auch für wichtige Termine wie z. B. Arzttermine, amtliche Termine, Therapien, Haushaltshilfe und Spitex etc. müssen viele Betroffene leider regelmässig über ihre Grenzen hinausgehen, da das Bewusstsein der Gesellschaft für den Umgang mit an ME Erkrankten bisher noch sehr wenig verbreitet ist.

Um dieses Überschreiten der Belastungsgrenze aufzufangen, musst Du Dich sowohl VOR als auch NACH der Aktivität besonders intensiv schonen, um die Baseline so rasch wie möglich wieder erreichen zu können. Gerade wenn man die Krankheit noch nicht so gut versteht, kann man dazu neigen, wieder aktiver zu werden, sobald ein bisschen Energie verfügbar wird. Es ist aber sehr wichtig, die Ruhezeit einzuhalten, bis die Baseline wieder erreicht ist. Für manche bedeutet das Stunden bis Tage und für andere Wochen oder Monate.

Erholung bis die Baseline wieder erreicht ist

Erholung beinhaltet die Schonung von Körper und Gehirn sowie die Vermeidung oder Reduktion von Sinnesreizen. Aktivitäten, die vor der Erkrankung erholend waren (Lesen, Spazieren etc.) sind es jetzt nicht mehr unbedingt! Die meisten ME-Patient:innen erreichen die Baseline am schnellsten wieder, wenn sie in einem dunklen, stillen und geruchsfreien Raum liegen. Dies erfordert immense Disziplin und mentale Stärke, besonders wenn man konstant von Symptomen geplagt ist, von denen man sich gerne ablenken möchte.

Entspannungstechniken

Es gibt darüber hinaus auch Techniken, wie man die Erholung unterstützen kann. Einige Patient:innen nutzen z. B. sanfte Entspannungsverfahren aus dem Yoga oder Formen der Mediation.

Schwerstbetroffene

Schwerstbetroffene haben nicht selten so wenig Energie, dass sie ihr Leben vollständig bettlägerig in abgedunkelten und schallisolierten Räumen verbringen müssen. Schonung nach einem Crash kann für sie bedeuten, dass selbst grundlegende alltägliche Pflegeaktivitäten eingeschränkt werden müssen, bis die Baseline wieder erreicht ist.

Katze mit Waage

Schritt 5: Planen & Aufteilen

Wenn Du durch die ersten vier Schritte hindurchgekommen bist, kennst Du Dich in der neuen Situation schon recht gut aus! Du kannst jetzt definitiv den Blick weiten und mit mehr Weitsicht planen.

Aufgaben weglassen oder delegieren

Die meisten ME-Patient:innen sind nicht in der Lage, alle Aufgaben der Alltagsbewältigung so wie vor der Erkrankung zu bewältigen. Es ist deshalb wichtig, Hilfe in Anspruch zu nehmen und Aufgaben zu vereinfachen oder auch einfach bleiben zu lassen: Gebügelte Kleider sind nicht zwingend notwendig und der Haushalt muss nicht immer perfekt erledigt werden. Statt zu duschen kann auch eine Katzenwäsche genügen.

Ist eine Verbesserung des Zustandes nicht in nützlicher Frist absehbar, sollte dringend zusammen mit Hausärzt:innen externe Unterstützung wie z. B. Haushaltshilfe, Spitex, Entlastungsdienst, Fahrdienste, Behindertenparkkarten, Eurokey (ein Universalschlüssel für hindernisfreie Einrichtungen), Nachbarschaftshilfe usw. geplant und in Anspruch genommen werden.

Aufgaben aufteilen und abwechseln

Wenn Du Aufgaben nicht am Stück erledigen kannst, kannst Du versuchen, sie in kleine Einheiten auf mehrere Stunden oder mehrere Tage aufzuteilen. Zudem kannst Du versuchen, zwischen kognitiven und körperlichen Tätigkeiten abzuwechseln oder zwischen solchen, die unterschiedliche Muskeln belasten.

Allerdings kann auch eine kognitive Aktivität zu verringerter körperlicher Leistungsfähigkeit oder eine körperliche Aktivität zu kognitiver Erschöpfung führen, weshalb auch diese Strategie nicht immer funktioniert.

Tätigkeiten anpassen

Bei vielen Tätigkeiten kann Energie eingespart werden. Beim Duschen kann bespielsweise ein Duschstuhl benutzt werden. In der Küche oder beim Wäsche zusammenlegen kann man sitzen. Mahlzeiten können im Liegen eingenommen und die Zähne im Bett geputzt werden. Für einige ist es auch hilfreich, die Tätigkeit langsamer durchzuführen, weil sie dadurch Energie sparen können.

Prioritäten setzen

Manchen Menschen ist es wichtiger, einen sauberen Haushalt zu haben, andere können nicht auf Sozialkontakt verzichten. Du darfst die Prioritäten so setzen, wie sie für Dich persönlich stimmen. Du brauchst auch kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn Du Hilfe im Haushalt in Anspruch nimmst und dafür eine Freizeitaktivität geniessen kannst.

Während Aktivitäten auf den Körper hören

Trotz aller Planung und Organisation kann es geschehen, dass Du während einer Tätigkeit Warnsymptome spürst. In diesem Fall solltest Du die Tätigkeit unterbrechen oder beenden.

Präventive und post-aktive Ruhe einplanen

ME-Patient:innen sind immer wieder mit Aktivitäten wie Arztbesuchen konfrontiert, die sie zwingen, über ihre Grenzen hinauszugehen. In diesem Fall ist es wichtig, sich vorher ausgiebig zu schonen, um die Energiereserven bestmöglich aufzufüllen. Für die Zeit danach muss eine lange Erholungszeit mit reduzierter Aktivität oder ganz ohne Aktivität eingeplant werden, damit die Baseline wieder erreicht werden kann.

Planende Katze

Hilfsmittel & Techniken

Sonnenbrille, Augenbinde, Lärmschutz

Diese Hilfsmittel können helfen, sich vor sensorischen Reizen abzuschirmen, um die Erholung zu verbessern. Sie können auch bei kurzfristig noch erträglichen Reizen präventiv eingesetzt werden. Du kannst z. B. Ohropax oder Noise-Cancelling-Kopfhörer bei Staubsaugerlärm, Transporten oder Gesprächen verwenden oder eine Augenbinde tragen, bevor Licht überreizend wirkt. Denn eigentlich findet die Überlastung bereits statt, sobald die Licht- & Geräuschempfindlichkeit einsetzt.

Elektrorollstuhl

Ein Elektrorollstuhl kann dazu dienen, den Bewegungsradius dank eines geringeren Energieverbrauchs zu erhalten oder zu erhöhen. Hierfür können behandelnde Ärzt:innen einen Antrag bei der Invalidenversicherung stellen. Es besteht auch die Möglichkeit, sich in einem Fachgeschäft beraten zu lassen. In der Schweiz ist es mit der Diagnose ME schwierig, eine Kostengutsprache für einen Elektrorollstuhl zu erhalten. Trotzdem ist es wichtig, es zu versuchen. Wenn der Antrag scheitert, können Hilfsorganisationen beigezogen werden. Dies gilt auch für die Finanzierung anderer Hilfsmittel. In manchen Kantonen kann auch über die Sozialen Dienste ein Rollstuhl gemietet werden.

Katze Rollstuhl

Timer

Sobald Du weisst, welche Aktivität Du wie lange ausüben kannst, ohne eine Zustandsverschlechterung zu riskieren, kannst Du Dir mit einer Stoppuhr dabei helfen, diese Zeit auch einzuhalten. Bei Besuchen oder freundschaftlichen Treffen kann es hilfreich sein, wenn Du Dich mit Deinen Freund:innen im Vorfeld über die maximale Dauer des Treffens absprichst und sie darum bittest, Dich bei der Einhaltung dieser Dauer zu unterstützen.

Wärmeflaschen und Coldpacks

Wärmeflaschen und Coldpacks helfen bei der Temperaturregulierung. Letztere können auch bei Schwellungen und Entzündungen lindernd wirken.

Trinkhalm/Trinkflasche

Für das Trinken im Liegen oder Eingeben eines Getränkes durch eine Assistenzperson eignen sich eine Flasche mit Aufsatz oder ein Trinkhalm am besten. Eine Trinkflasche kann ausserdem im Bett bereitgelegt werden, sodass Du sie je nach Schweregrad selbst erreichen kannst.

Hilfsmittel

Kompressionsstrümpfe

Kompressionsstrümpfe können bei POTS (Herz-Kreislauf-Störung) unterstützend wirken. Sie sind für schwer Betroffene schwierig anzuziehen. Allenfalls ist es nur mit Hilfe möglich.

Schuhlöffel, Ankleidehilfe, Greifzange

Das Aufstehen aus der Kniebeuge kann besonders herausfordernd sein. Hierfür können ein langer Schuhlöffel und eine Sockenanziehhilfe nützlich sein. Um nach Dingen rund ums Bett zu greifen oder ein Kleidungsstück hochzuziehen, kann eine Greifzange dienen. Diese Hilfsmittel sind in Apotheken und Hilfsmittelfachgeschäften zu finden.

Körperpflege

Ein Duschstuhl kann Energie einsparen, welche dann für andere Tätigkeiten eingesetzt werden kann. Manche ME-Patient:innen empfinden es als weniger anstrengend, liegend zu baden, statt sitzend zu duschen. Bei einer niedrigschwelligen Duschwanne lassen sich die Haare auch liegend waschen, indem man sich – mit dem Kopf in der Dusche - auf den Boden des Badezimmers legt. Für Schwerstbetroffene gibt es Haarwaschwannen für die Anwendung im Bett.

Katze in Dusche

Ernährung

Mahlzeiten vorzukochen, entweder selbst oder durch eine Assistenzperson, kann viel Energie einsparen. Auch verschiedene Mahlzeitendienste können organisiert werden. Bei Bedarf können auch Essenslieferdienste helfen, wenn dies in finanzieller Hinsicht möglich ist. Optimalerweise sollten auch immer einige Fertiggerichte im Vorratsschrank sein.

Wenn feste Nahrung nicht aufgenommen oder verdaut werden kann oder die Kraft zum Essen fehlt, ersetzt medizinische Trinknahrung teilweise oder gänzlich die Mahlzeiten. Dies kann von Hausärzt:innen verschrieben werden und sollte bei regelmässiger Anwendung engmaschig begleitet werden.

Eine einfachere, aber wesentlich teurere Variante ist das Zukaufen von Trinknahrung aus dem Einzelhandel. Ob sich diese für eine Langzeitanwendung eignet, muss individuell abgeklärt werden. Bei schwer und Schwerstbetroffenen kann selbst Flüssignahrung zu PENE führen. Für manche ME-Patient:innen ist es unmöglich, sie zu schlucken. Hier müssen Hilfspersonen mit Ärzt:innen eine andere Lösung (z. B. künstliche Ernährung) suchen.

Einkaufsdienst

Falls Du selbst einkaufen gehen kannst, ist das Schreiben eines Einkaufszettels hilfreich, da die kognitive Leistungsfähigkeit im Laden schnell sinken kann. Ein Einkaufszettel verkürzt die Aufenthaltsdauer im Laden und erleichtert Entscheidungen bei der Auswahl der Produkte. Dies ist wichtig, da das Fällen vieler kleiner Entscheidungen für viele ME-Patient:innen eine grosse kognitive Belastung darstellt.

Es hilft, zu Randzeiten einkaufen zu gehen oder kleinere Geschäfte auszuwählen, um grosse Menschenansammlungen und die damit verbundene Reizüberflutung zu vermeiden. Um Energie zu sparen, kannst Du auch online einkaufen oder eine Assistenzperson einkaufen lassen.

Medikamentenservice

Medikamente kannst Du online bestellen und durch Postversand oder Lieferservice von Apotheken liefern lassen. Einige Apotheken bieten ausserdem an, die Medikamente für mehrere Wochen vorzurichten und abzupacken.

Hilfe aus der Community

Für viele ME-Patient:innen ist der Austausch mit anderen Betroffenen sehr hilfreich. Dies kann nicht nur eine wertvolle emotionale Stütze sein. Du kannst darüber hinaus von den Erfahrungen anderer Patient:innen profitieren. Es gibt verschiedenste Online-Foren, in denen sich Betroffene austauschen und unterstützen.

Katzenfreunde

Pacing mit Pulsuhr 2

Eine Pulsuhr hilft, während einer Aktivität die erforderliche Herz-Kreislauf-Belastung zu erkennen und Aktivitäten abzubrechen, bevor eine PENE riskiert wird. Sie hilft auch zu erkennen, dass alltägliche Aktivitäten wie Duschen oder in der Küche Stehen anstrengender sein können, als gedacht.

Ruhepuls

Als Erstes wird der Ruhepuls ermittelt. Dazu misst Du Deinen Puls während sieben Tagen am Morgen direkt nach dem Aufwachen, ohne vorher aufzustehen. Der Durchschnitt aus diesen sieben Werten ist der durchschnittliche Ruhepuls.

Aktivitätsgrenze

Der höchste tolerierbare Puls liegt in der Regel ca. 15 Schläge über dem Ruhepuls. Dieser sollte nicht länger als zwei Minuten überschritten werden. Viele Pulsuhren können so eingestellt werden, dass sie ein Alarmsignal geben, wenn dieser Maximalpuls überschritten wird.

Hinweis für Patient:innen mit POTS

Patient:innen, die an POTS leiden, können diese Methode nicht eins zu eins anwenden, da ihr Puls den errechneten Maximalwert bereits beim Aufstehen überschreitet. Sie können dennoch mit einer Pulsuhr pacen, müssen allerdings selber Erfahrungen sammeln, welche Pulswerte bei welcher Tätigkeit Zustandsverschlechterungen ankündigen.

Hinweis zu Medikamenten

Verschiedene Medikamente haben einen Einfluss auf den Puls. Auch Patient:innen, die solche Medikamente einnehmen, müssen eher eigene Erfahrungen sammeln, als dass sie sich direkt nach dem Schema richten können.

Erfahrungen sammeln

Auch andere ME-Patient:innen müssen diesen Empfehlungen nicht mechanisch folgen, da es sich nur um Richtwerte handelt. Sie können Erfahrungen sammeln und sich an den Mustern ihrer individuellen Werte orientieren.

Ruhetage

Wenn der Puls nach dem Aufwachen mehr als 10 Schläge über dem durchschnittlichen Ruhepuls liegt, deutet dies darauf hin, dass sich der Körper in der Nacht kaum erholt hat. An diesen Tagen solltest Du Dich besonders schonen.

Paradoxe Reaktionen

ME-Patient:innen reagieren auf Überanstrengung bis zu einem gewissen Grad mit einem erhöhten Puls. Bei manchen kann der Puls bei extremer Überanstrengung jedoch plötzlich stark abfallen (manchmal sogar bis weit unter den Ruhepuls). In diesen Fällen bedeutet ein absinkender Puls jedoch nicht, dass keine Überlastung besteht, sondern im Gegenteil, dass Ruhe besonders dringend angezeigt ist.

Kognitive Anstrengung

Kognitive Anstrengung kann PENE verursachen und äussert sich nicht unbedingt in einem Anstieg des Pulses. Deshalb kann eine PENE durch kognitive Überanstrengung nicht mithilfe einer Pulsuhr verhindert werden.

Hinweis zu Pulsuhren

Viele Pulsuhren messen weitere Indikatoren, wie zum Beispiel die Schlafqualität. Diese Daten können ebenfalls in die Planung der Aktivität einfliessen.

Vorsicht ist insofern geboten, als die meisten dieser Geräte für gesunde Menschen entwickelt wurden und deshalb teilweise Schwierigkeiten haben, die Werte von ME-Patient:innen richtig zu interpretieren. Deshalb braucht es eine gewisse Zeit, bis deutlich wird, wie mit diesen Fehlinterpretationen umgegangen werden kann.

Alarmierte Katze

Schlusswort der Illustratorin

Pacing & Zeichnen mit schwerer ME

Vor meiner Erkrankung hätte ich einfach Stift und Papier genommen und drauf los gekritzelt. Jetzt, da ich seit Jahren in Dunkelheit liegen muss, läuft das Ganze sehr anders ab.

Für dieses Projekt habe ich mir zunächst einen Haufen Katzenfotos angeschaut und mir die Anatomie eingeprägt. Im nächsten Schritt versuche ich das gewünschte Motiv in meinem Kopf zu skizzieren. Je klarer meine Vorstellung davon, desto weniger Kraft kostet mich die eigentliche Skizze.

Und dann geht es natürlich nicht mit Stift und Papier weiter. Da ich nur sehr kurz sitzen kann und kein Licht ertrage, male und zeichne ich im Liegen auf einem abgedunkelten iPad. Meist mit den Fingern, da einen Stift zu halten sehr viel Kraft kostet.

Pacing ist für mich insbesondere beim kreativen Arbeiten extrem schwer. Kreativ sein ist das, was ich liebe. Wenn ich einmal angefangen habe, möchte ich gar nicht mehr aufhören. Und aufzuhören, bevor eine Symptomverschlechterung eintritt, das ist verdammt schwer.

Ich kann leider nicht behaupten, besonders gut darin zu sein, aber ich werde besser. Es ist ein Prozess. Wie diese Broschüre gezeigt hat, lohnt es sich gut zu pacen. Letztlich schafft man dadurch mehr und vor allem: mit weniger Leid.

Mir hat die Arbeit für diese Broschüre noch einmal vor Augen geführt, wie wichtig es ist und mir einen ordentlichen Motivationsschub gegeben, noch besser zu pacen.

Ich hoffe, dass auch Du etwas daraus mitnehmen konntest und es dir damit ein Stück weit besser gehen wird. Wenn es nicht immer so klappt, mach Dir bitte keine Vorwürfe. Es ist wirklich nicht leicht. Aber es lohnt sich dranzubleiben.

Und noch eine letzte, wichtige Sache: Du bist nicht allein. Wir sind Millionen und gemeinsam sind wir stärker.

Alles Liebe & viel Erfolg beim Pacing.

Vanessa
Instagram @van.neu

Katze mit Pinsel

Einzelnachweise

KEITH GERAGHTY ET AL, Myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome patients’ reports of symptom changes following cognitive behavioural therapy, graded exercise therapy and pacing treatments: Analysis of a primary survey compared with secondary surveys, in: Journal of Health Psychology, August 2017 (online)

Der Abschnitt über Pacing mit Pulsuhr wurde mithilfe von Beratung durch die Workwell Foundation erstellt. Workwell Foundation

Überblicksstudie zu Pacing

ELLEN M. GOUDSMITH ET AL, Pacing as a strategy to improve energy management in myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome: a consensus document, in: Perspectives in Rehabilitation, Dezember 2011 (online)

Inspiration für diese Anleitung

Pacing-Anleitung der ME/CFS South Australia Inc. Pacing | ME/CFS SA

Pacing Anleitung der Physios for ME Pacing | Physiosforme